Misshandlung kennt keine Grenzen. Fälle wie zuletzt der des kleinen Cain sorgen für einen Ansturm in Tirols Kinderschutzzentren.
Auf einer Bank im Vorzimmer des Kinderschutzzentrums in der Innsbrucker Museumstraße sitzt ein Jugendlicher und wartet. „Wir haben immer mehr Zulauf“, sagt Karin Hüttemann, Leiterin der Einrichtung, die sich um Opfer sexueller Gewalt kümmert. Allein im Vorjahr kontaktierten 797 Personen das Kinderschutzzentrum und suchten in den vier Zweigstellen in Innsbruck, Imst, Lienz und Wörgl Hilfe.
Wie die jüngsten Zahlen zeigen entspricht das im Vergleich zu 2009 einer Zunahme von elf Prozent. 3877 Beratungskontakte verzeichnete das Zentrum 2010. Der Großteil entfällt auf Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliceh bzw. den Verdacht darauf mit 2437 Beratungskontakten. Physische Gewalt war in 441 Fällen und psychische Gewalt in 152 Fällen das Thema. „Wir sind bis an unsere Grenzen ausgelastet“, sagt Hüttemann, die niemanden der Hilfe sucht, wegschicken möchte. Deshalb würde sie sich Beratungsstellen in allen Tiroler Bezirken wünschen.
Ein Großteil der Arbeit in den einzelnen Kinderschutzzenren sind Beratungen und Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen, die von Gewalt betroffen sind. Aber es wenden sich auch viele Bezugspersonen an die Einrichtung, wenn sie den Verdacht haben, dass ein Kind in ihrem Umfeld sexuell missbraucht wird.
Den meisten Kindern fällt es nämlich sehr schwer über die Vorfälle zu sprechen. „Sie haben für sexuellen Missbrauch oft keine Sprache, können es nicht benennen“, sagt Anne Lintner vom Kinderschutzzentrum in Wörgl. „Die Kinder spüren, dass das, was mit ihnen gemacht wird, nicht in Ordnung ist, obwohl ihnen das Gegenteil eingeredet wird“, weiß sie aus ihrer langjährigen Erfahrung. Seit mehr als zehn Jahren ist die Psychotherapeutin für die Einrichtung tätig.
Wenn sich beispielsweise der Opa oder der Stiefvater zu dem Kind ins Bett legt und es anfasst, heißt es meistens. „Das bleibt unser Geheimnis, das darfst du niemandem erzählen.“ Die Kinder werden eingeschüchtert. Und woher soll eine Vierjährige auch wissen, dass es nicht normal ist, was ihr passiert, erklärt die Psychotherapeutin.
Auch wenn sie nicht darüber sprechen, senden von sexueller Gewalt betroffene Kinder Signale aus, die darauf hindeuten können, sagt Lintner, Wer plötzliche Veränderungen feststellt, der sollte auf alle Fälle genauer hinschauen, rät sie. „Viele Kinder ziehen sich zurück, haben plötzlich Angst, werden aggressiv oder weinerlich“, beschreibt sie.
All das können Anzeichen für einen sexuellen Missbrauch sein, sie müssen es aber nicht. Trotzdem ist höchste Aufmerksamkeit gefordert. Man sollte das Kind auf seine Veränderung ansprechen. Etwa in folgende Richtung, rät Lintner: „Mir ist aufgefallen, dass es dir nicht gut geht, ich mache mir Sorgen, ist etwas, das dich belastet.“
Als Bezugsperson, etwa als Lehrer oder Kindergärtnerin ist es wichtig, sich die Veränderungen schriftlich zu notieren und sich an eine Beratungsstelle wenden. Gleichzeitig sollte man möglichst viel Vertrauen zu dem Kind aufbauen, um ihm Raum zu geben, etwas zu sagen, sagt Lintner.
Bis zu sechs Mal nehmen Betroffene laut Statistik Anlauf, über den Missbrauch zu sprechen. Das könne ganz nebenbei beim Spielen sein, in Zeichnungen dargestellt werden oder einer Freundin geschildert werden.
Passiert der Missbrauch innerhalb der Familie – wie es in 80 Prozent der Fälle vorkommt – ist es für die meisten noch schwerer, darüber zu sprechen. Denn dann kommt die Angst dazu, die Familie zu zerstören, und vor allem die Angst, dass einem nicht geglaubt wird.
Laut Litner wäre aber genau das das allerwichtigste. Dem Kind zu sagen: „Ich glaube dir, und niemand darf so etwas mit dir machen!“ Je eher dem Kind geglaubt wird, desto besser kann es den Missbrauch verarbeiten, weiß Lintner aus Erfahrung.
Als Eltern kann man die Kinder versuchen zu schützen, indem man ihnen Grenzen aufzeigt und diese auch einhaltet. „Das Kind muss nicht immer ein Bussi geben, wenn es nicht will“, sagt Lintner.
Außerdem sollte man die Kinder ernst nehmen, ihre Grenzen respektieren und ihnen ein Umfeld bieten, in dem sie auch schwierige Dinge zur Sprache bringen können, rät die Expertin.